Ein Stolperstein für Henny Jacobson Am Treptower Park 49
12. Dezember 2024
Als der Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Treptow am 9. November 2023, 85 Jahre nach der faschistischen Reichspogromnacht, vor den Häusern Moosdorfstraße 3 und 4 Stolpersteine für Bertha Samson und ihren Enkel Karl Kurt Ernicke verlegte, war auch eine aus dem Schwarzwald angereiste Familienangehörige dabei. Tief bewegt von Zeremonie und Anteilnahme der Bevölkerung in diesem Plänterwalder Kiez, vom gemeinsamen Putzen dort bereits verlegter Stolpersteine und den guten Gesprächen im Anschluss bei Kaffee und Kuchen im Abgeordnetenbüro von Katalin Gennburg, beschloss Susanne Ernicke, jedes Jahr die Kosten für einen Stolperstein in Treptow zu übernehmen. Ihre erste Spende gilt der Erinnerung an Henriette Jacobson. Geboren 1888 Crivitz in Mecklenburg, kam die Schnittzeichnerin Henriette, die alle nur Henny riefen, vermutlich Mitte der Zwanzigerjahre in die Hauptstadt. Im April 1936 zog sie von Steglitz nach Treptow, wenige Gehminuten entfernt von Susanne Wernickes Großonkel Karl Kurt. Sie bewohnte zwei Zimmer mit Küche im Seitenflügel Am Treptower Park 49.
Am 19. Januar 1942 wurde Henny Jacobson nach Riga deportiert und vermutlich gleich nach ihrer Ankunft im Ghetto ermordet.
Sie war ein paar Jahre jünger als Bertha Samson und einige Jahre älter als Karl Kurt Ernicke, aber es ist ja nicht ausgeschlossen, dass sie die beiden kannte. Auf jeden Fall ein schöner Gedanke, dass die Verbindung zwischen ihnen nun durch die Spenderin des Stolpersteins hergestellt wird, der im Gedenken an Henny Jacobson und alle anderen Opfer der Nazi-Diktatur am 9. November 2024 um 17.00 Uhr vor dem Haus Am Treptower Park 49 verlegt wird.
Zuvor putzen die Stolperstein-Initiative des BdA Treptow und Die Linke Treptow-Nord alle bereits im Kiez vorhandenen Stolpersteine. Anschließend lädt das Büro von Katalin Gennburg wieder zum Gespräch bei Kaffee und Kuchen ein.
Aus dem „blättchen“ Treptow-Köpenick, November 2024
Gedenkrede Mathias Ehrich, Stolperstein-Initiative des BdA Treptow
„Verehrte Anwesende, meine Damen und Herren, sehr geehrte Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses Am Treptower Park 49!
Am 01. April 1936 hielt hier, an dieser Stelle, ein Umzugswagen. Er war nicht groß, denn Henriette, genannt Henny, Jacobson hatte nicht viel zu transportieren aus der Steglitzer Bergstraße 59, wo sie zur Untermiete gewohnt hatte, in ihr neues Domizil Am Treptower Park 49: ein Bett, einen Kleiderschrank, einen Tisch und vier Stühle, einige Kleidungsstücke, persönliche Utensilien und – eine Nähmaschine! Sie war wichtig, denn Henny arbeitete als selbständige Schnittzeichnerin, und es liegt nahe, dass sie sich durch Nähen und Ausbessern von Garderobe zu Hause ein wenig dazu verdienen konnte. Sehr vermögend war Henny nicht, und sie zog auch nicht ins gutbürgerliche Vorderhaus, sondern in den 1. Stock des Seitenflügels, aber immerhin in eine Wohnung, die sie mit keinem teilen musste.
Mit Bekleidung kannte sie sich aus. Als sie am 05. August 1888 in der mecklenburgischen Kleinstadt Crivitz, nicht weit von Schwerin entfernt, auf die Welt kam, handelte die Familie ihres Vaters, Eduard Jacobson, schon seit Generationen mit Textilien und mit Leder. Der Großvater von Henny, Levy Jacobson, hatte schon vor 1849 in der Parchimschen Straße ein Kaufhaus für Bekleidung gegründet. Später übernahm Hennys Vater das Geschäft und baute es zum größten Warenhaus von Crivitz aus. Die Jacobsons waren beliebt und angesehen. Man kaufte gern bei ihnen ein, bekam doch jeder Kunde eine kleine Tasse Kaffee serviert. In dieser Umgebung ist Henny aufgewachsen. Täglich war sie im Laden ihres Vaters anzutreffen. Sie bekam im Laufe der Zeit ein Gefühl für Stoffe und Textilien, und sie lernte, wie man Menschen damit ausstaffiert. Nach allem, was in Crivitz zu hören war, als ich die Stadt besuchte, hat Henny dort eine glückliche Kindheit erlebt, auch wenn einschneidende Ereignisse das Leben der Familie Jacobson und der kleinen jüdischen Gemeinde in Crivitz trübten. Ihr Halbbruder Alfred fiel noch 1918, kurz vor Ende des I. Weltkriegs, in Frankreich für das deutsche Kaiserreich. Dadurch wurde die Mindestanzahl von 10 männlichen Erwachsenen für den Gottesdienst nicht mehr erreicht. Anfang der zwanziger Jahre musste Henriettes Vater Eduard in Schwerin die Auflösung der jüdischen Gemeinde beantragen. Die Synagoge wurde entwidmet und an einen Privatmann verkauft. Dadurch hat allerdings das Gebäude die Nazizeit unbeschadet überstanden. Man kann es heute noch in der Stadt sehen, in der Fritz-Reuter-Straße 13, ebenso wie das Haus in der Parchimer Straße 12, in dem sich einst das Textilkaufhaus der Familie Jacobson befand. Henny, als das jüngste Kind, kümmerte sich rührend um ihre Eltern. Ihre Mutter Bertha starb 1924, ihr Vater Eduard drei Jahre später im stattlichen Alter von 92 Jahren. Beide wurden auf dem jüdischen Friedhof „hinter dem Mühlentor“ beerdigt. An ihn erinnert nichts mehr. Die Grabstätten wurden heute vor 86 Jahren, am 09. November 1938 von SA-Horden geschändet und später, noch unter der Herrschaft der Faschisten, wurde der Friedhof ganz eingeebnet.
Wann und warum sich Henny Jacobson entschloss, nach Berlin umzuziehen, konnte ich nicht genau in Erfahrung bringen. Sie war und blieb ja alleinstehend, und es sind keine biographischen Aufzeichnungen von ihr überliefert. Es spricht einiges dafür, dass sie dem Rat ihres Halbbruders Richard folgte, der schon um 1900 in die Reichshauptstadt gezogen war und in Mitte ein „Import&Export“-Geschäft betrieb. Richard starb 1943 im Ghetto Theresienstadt. Ein Stolperstein in der Kreuzberger Lindenstraße 83 hält das Gedenken an Richard Jacobson wach.
Als Henny ihre Hinterhofwohnung bezog, standen die Olympischen Sommerspiele in Berlin kurz bevor. Hitler wollte das „Dritte Reich“ weltoffen und tolerant präsentieren, und so sollten die Demütigungen und Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung in dieser Zeit weniger offen und weniger drastisch durchgesetzt werden. Aber kaum waren die internationalen Sportler und die ausländischen Gäste aus Deutschland abgereist, wurden die diskriminierenden Maßnahmen gegen Juden weiter systematisch verschärft. So war es auch Frau Jacobson untersagt, sich auf bestimmte Bänke im Treptower Park zu setzen. Sie durfte nur noch jüdische Ärzte aufsuchen. Ab Januar 1939 musste sie, wie alle anderen jüdischen Frauen, ihrem Namen ein „Sara“ hinzufügen. Und laut Polizeiverordnung vom 01. September 1941 war sie, wie alle ihre jüdischen Schicksalsgefährtinnen und -gefährten, ab sofort verpflichtet, deutlich sichtbar an ihrer Kleidung einen „Judenstern“ zu tragen. Dieses Stigma vollendete gewissermaßen die Ausgrenzung der Juden aus dem deutschen Volk. Danach begannen die Deportationen, auch in Berlin. Henny musste ihr Schicksal mit dem ihrer jüdischen Nachbarn in der Rethelstraße, in der Puderstraße, in der Mossdorfstraße teilen, die sie sicherlich kannte. Vielleicht hatte sie ihnen sogar dabei geholfen, die gelben Sterne an Jacken und Mänteln zu befestigen. Aber wie viel schwerer muss es für sie gewesen sein, alleinlebend, ohne Kinder, inzwischen 53 Jahre alt, die spärlichen Sachen zu packen für eine Reise, von der sie womöglich ahnte, dass es ihre letzte sein würde. Kurz zuvor, am 17. Dezember 1941, musste sie noch eine handschriftliche Vermögenserklärung abgeben, archiviert und nachzulesen im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam unter der Signatur 36 A Römisch II Nummer 17 103. Es musste ja alles seine preußische Ordnung haben. Zitat: „Keine Gemälde, keine Kunst oder Antiquitäten, kein Schmuck, kein Gold oder Juwelen, ein ovaler Tisch, vier Polsterstühle, ein Nähtisch…“ Später, im Übergabe-Protokoll der „Judenwohnung“, wie sie bezeichnet wurde, ist der Gesamtwert des Inventars mit 288 Reichsmark und 70 Pfennigen angegeben worden. Und im Vermerk der Gestapo hieß es, ich zitiere: „Die Jüdin Henriette Sara Jacobson, Berlin-Treptow, Am Treptower Park 49 wohnhaft gewesen, ist am 19. 01. 1942 unter Transport-Nummer 62 36 nach Riga evakuiert worden.“
Das Ghetto in der lettischen Hauptstadt war sehr klein, nur ein paar Straßenzüge in der Moskauer Vorstadt umfassend. Bei einem Besuch vor ein paar Jahren habe ich mir das Stadtviertel angeschaut, in dem heute eine Gedenkstätte untergebracht ist. Das Ghetto war nach der Besetzung Rigas durch die deutsche Wehrmacht im Juli 1941 eingerichtet worden, zunächst um die lettischen Juden dort unterzubringen, die die Pogrome nach dem Einmarsch der Nazis überlebt hatten. Fast 30-tausend jüdische Kinder, Frauen und Männer wurden dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Als Hitler im September 1941 den Befehl zur Deportation deutscher Juden in den Osten gab, musste „Platz geschaffen werden“. Am 30. November, dem Tag, an dem der erste Transport aus Berlin in Riga ankam, begann die Erschießung der Ghettoinsassen im nahegelegenen Wald von Rumbula. Die über 1000 Berliner Juden wurden gleich mit exekutiert. Von diesem Zeitpunkt an erreichten fast täglich Züge mit „Reichsjuden“, wie die Nazis sie nannten, Riga, aus Düsseldorf, aus Hannover, aus Kassel, auch aus Berlin. Wer zu alt oder zu schwach war, um noch zu arbeiten, wurde noch am Ankunftstag erschossen. Nur sehr, sehr wenige Juden haben das Ghetto Riga überlebt. Henriette, genannt Henny, Jacobson war nicht unter ihnen.
Umso wichtiger ist es, das Gedenken wachzuhalten. Meine Schwester und ich sind gleich hier, um die Ecke in der Leiblstraße, aufgewachsen. Natürlich hatten wir in der Schule von den Verbrechen der Nazis gehört, die ehemaligen Konzentrationslager in Sachsenhausen und in Buchenwald besucht. Aber die unfassbaren Opferzahlen abstrahieren auch das Grauen. Als Kinder haben wir ja nicht geahnt, dass nur wenige Jahre zuvor hier eine einfache, fast unscheinbare Frau namens Henriette Jacobson aus ihrem Leben herausgerissen wurde. Es erfüllt mich mit Freude und Genugtuung, dass wir ihr heute mit der Verlegung eines Stolpersteines ihre Würde zurückgeben können. Und ich bedanke mich sehr bei Frau Susanne Ernicke, die wir im vergangenen Jahr bei der Verlegung von zwei Stolpersteinen für ihre Angehörigen in der Moosdorfstraße kennengelernt haben, für die Finanzierung des Gedenksteines für Henny Jacobson. Danke sagen möchte ich auch Herrn Dr. Reinecke und Frau Weigel-Pille, die mich bei meinen Recherchen in Crivitz toll unterstützt haben. Und bevor Meister Wiehe, bei dem ich mich auch ausdrücklich bedanken möchte, mit der Verlegung beginnt, möchte ich Sie noch einladen, morgen um 11.00 Uhr ins Rathaus Treptow zu kommen, wo wir der Pogromnacht gegen die deutschen Jüdinnen und Juden vor 86 Jahren gedenken wollen. Und wer heute noch nach unserer Feierstunde die Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch bei Kaffee und Kuchen nutzen möchte, der kann uns gern in die Moosdorfstraße 7 bis 9 ins Treptower Abgeordnetenbüro von Katalin Gennburg von den Linken begleiten. Danke auch an Eckhard Franke für seine musikalische Umrahmung! Und bedanken möchte ich mich bei der Berliner Polizei, die unsere Veranstaltung abgesichert hat. Vielen Dank!“